Das Rostocker Rotlichtmilieu vor 30 Jahren

Rostock, Germany. City skyline reflecting in water of Warnow river

NDR-Zeitreise blickt zurück und erzählt von organisierter Kriminalität, Prostitution und einem Rostocker Polizeichef

Manchmal sind doch gerade jene in lange in der Vergangenheit liegenden Storys ganz spannend. Geschichten von besonderen Kriminalfällen, politischen Verstrickungen oder juristischen Präzedenzfällen. Sie lesen sich irgendwie wie ein guter Thriller, bedienen unsere Phantasie und unser BedĂĽrfnis nach reich geschmĂĽckten Erzählungen. Speziell wenn die unmittelbare persönliche oder emotionale Bindung fehlt, kann man derlei Storys so richtig genieĂźen. Man schwelgt einfach hinfort, ähnlich wie bei Fiction, Fantasy oder Geschichten von weit weit weg. Wenn nun auch noch Verstrickungen zwischen „Gut“ und „Böse“, Mord und Totschlag dazugehören, ach und die nötige Portion Sex nicht zu vergessen, dann ist unsere ureigenste Sensationslust befriedigt.

Wohl genau aus diesem Grund wird das NRD-Nordmagazin den Bericht „Zeitreise: Rostocker Polizeichef im Rotlicht-Strudel“ veröffentlicht haben. Hier ist einfach alles enthalten. In Wort und Bild (6,45-minĂĽtiger Filmbeitrag) werden wir ins Rotlichtmilieu der 90er Jahre entfĂĽhrt. Samt toter Zuhälter, einem Rostocker Polizeichef / LKA-Chef, der die Dienste von Sexarbeiterinnen in Anspruch nahm inkl. im Raum stehender Erpressbarkeit.

Ein Fall wie er im Buche steht. Wenn es da nicht ein Aber gäbe. Und jenes „Aber“ ist leider auch im aktuellen Beitrag das selbe wie vor 30 Jahren. Leser und Zuschauer blicken auf die Schicksale der Männer. Es ist eine patriarchalische Erzählung ĂĽber Gut und Böse, Recht und Unrecht, ĂĽber Männlichkeit. Denn die zur Geschichte gehörenden Frauen, in diesem Fall Prostituierte, sind hier keine Charaktere. Sie sind nur Gegenstand der Handlung ohne selbst eine eigene Persönlichkeit zu besitzen. Weder agieren sie aktiv, noch wirken sie auf Augenhöhe auf den Leser ein – nicht ein einziges Mal. Stattdessen werden sie von den Autoren (heute wie damals) fĂĽr ein entmĂĽndigendes Framing gebraucht. Beispiel: sowohl der interviewte Kriminalpolizista als auch der damals verantwortliche Staatsanwalt sprechen im Zusammenhang mit den damals involvierten Prostituierten beiläufig und selbstverständlich von „Mädchen“. Die Bild hatte damals Fotos von zwei dieser „Mädchen“, „Doris“ und „Silvia“ genannt, veröffentlicht (mit Augenbalken). Die Bild selbst bezeichnete die beiden als „Liebesmädchen“. Aber: die Abgelichteten sollen 20 und 22 Jahre alt gewesen sein. Wo bitte waren das Mädchen? Warum dĂĽrfen zwei weiĂźe alte Männer auch heute noch Frauen ĂĽber 20 unkommentiert als Mädchen bezeichnen? Klar, um sie zu entmĂĽndigen, herabzuwĂĽrdigen.

Welche Rolle spielten die Prostituierten damals wirklich? Welche Bedürfnisse, Nöte, hatten die Frauen? Auf welcher Seite standen sie? Gab es überhaupt nur zwei Seiten? Waren sie wirklich Opfer eines rein kriminogenen Umfeldes? Wie weit spielte das damals eine Rolle für den Fall? Welchen Einfluss hatten sie wirklich auf den Polizeichef? Wir erfahren es nicht. Auch nicht, dass die Rechtslage Anfang der 90er hinsichtlich Sexarbeit nicht die selbe war wie heute.
Allen voran waren da die rechtliche Benachteiligung von Prostituierten durch die Sittenwidrigkeit. Sexarbeiter:innen hatten keinen in die gesetzliche Sozialversicherung, Werbung für Prostitution war verboten, Verträge mit Bezug auf die Prostitutionstätigkeit galten als nichtig etc.pp.

Aber nein, das interessiert nicht, wäre zu anstrengend, zu gesellschaftskritisch, zu komplex. Im Fordergrund mĂĽssen einfach nur Männer stehen. Machtmenschen. Die rein patriarchalische Auseinandersetzung zwischen jenen auf der Seite des Gesetzes und jenen auf der Seite der Unterwelt – Ăśberläufe mit inbegriffen. Sobald Frauen involviert sind, dann bitte nur als namenlose Opfer, als verunmĂĽndigte aber gleichzeitig sexualisierte „Mädchen“, als Spielball der Mächtigen, als erwähntes Beiwerk.

Ja, diese aktuell aufgewärmte Geschichte ist spannend, weckt Gefüle, bedient ein gewisses Gerechtigkeitsbedürfnis und führt kurzweilig durch den Plott. Und dennoch gefällt sie nicht. Denn zwischen den Zeilen und hintergründig missachtet sie Prostituierte, missachtet Frauen. Weil der Duktus 2022 nicht anders ist als 1994.

rde

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