Zweifelhafte Recherchearbeit beim funk-Format „Leeroy will’s wissen!“?

Top: Interviews auf Augenhöhe | Flop: unzureichende Informationskompetenz wegen fragwürdiger Quellenbeschaffung

„Sex Sells“ – dieser Marketingstrategie können sich scheinbar auch die Macher des zu funk gehörenden Youtubekanal „Leeroy will’s wissen!“ nicht völlig entziehen. Zumindest könnte man den Eindruck gewinnen, wenn man sich durch die vergangenen Themen des Interviewformates mit und von Youtuber Leeroy Matata arbeitet. Matata spricht mit einer „Bimbo Doll“, einem Camgirl, gleich mehrmals mit Pornodarsteller:innen und Sexarbeiterinnen, zuletzt auch mit einer Zwangsprostituierten.

Aufmerksamkeitshaschen mittels Sex ist hier eigentlich gar nicht schlimm, denn genau das macht das Format aus: über oft als unangenehm oder sensationell empfundene Themen zu sprechen, mit Personen am Rand der Gesellschaft oder mit Menschen mit besonderen Krankheiten, Lebensgeschichten und -umständen zu reden – also insgesamt bedient Leeroy Matata die Neugier und die Gemütsbewegung der Menschen.
Doch immer bleibt der Fragensteller, selbst im Rollstuhl sitzend, auf Augenhöhe mit seinen Interviewpartner:innen, ist neugierig aber nie verurteilend oder wertend. Laut Selbstverständnis sollen die Zuschauer:innen „weg vom Vorurteil – hin zur reflektierten Meinungsbildung“ gelangen indem man auch der ideologischen Gegenseite „ein offenes Ohr schenkt“ und die „Motivationen und Züge dieser Person“ kennenlernt. Nicht ohne Grund findet „Leeroy will’s wissen!“ so viel Akzeptanz und positives Feedback bei mittlerweile über 2 Mio Followern.

Wo ist dann das Problem? Nicht im interview selbst, sondern in der redaktionellen Informationskompetenz! Denn bevor die Vier-Augen-Gespräche („Wie ist das … zu sein?“) als auch die Treffen/Diskussionsrunden zwischen zwei vermeintlich gegensätzlichen Persönlichkeiten („[Person x] trifft [Person y]“) gibt es einen sogenannten Faktencheck. Mittels diesem sehr kurz aber scheinbar prägnant gehaltenen Faktencheck soll das Publikum grob über hintergründige Zahlen und Daten informiert werden.
Warum auch immer, mindestens in 3 Interviews zum Thema Prostitution bestechen diese Faktenchecks durch falsche und sich widersprechende Zahlen. Einhergehend werden die Quellen willentlich? verschleiert, indem sie in den Shownotes zwar genannt aber ehrlich gesagt extrem wage und unzureichend angegeben werden. Einzelne Quellen geben zudem Anlass zur Sorge, weil sie alles andere als seriös sind.

Unserer Ansicht nach gehört aber zu einem offenen Diskurs immer auch eine nachvollziehbare, seriöse und gewissenhafte Recherchearbeit. Denn speziell bei überaus sensiblen Themen ist „Meinung“ bekanntlich nicht zielführend, oftmals eher gefährlich. Vor allem dann, wenn sie nicht durch gute Recherchearbeit und wissenschaftliche bzw. evidente Erkenntnisse untermauert wird.

Kommen wir also zum Video „Wie ist das Zwangsprostituierte zu sein?“. Hier werden die wirklich dramatischen Gewalterfahrungen der Interviewpartnerin beleuchtet. Leider, und man muss „leider“ sagen, gibt es von außen wenig Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Vergewaltigungsopfers. Denn es zeigt deutlich die Abgründe der menschlichen Psyche. Also die der Täter. Denn wären die erzählten Geschichten gelogen/erfunden, könnte man wenigstens aufatmen. Das Erzählte als Fiktion, als Schauspiel abtun. Das bleibt den Zuschauer:innen jedoch verwehrt und man fragt sich, warum Menschen zu Tätern werden und zu so etwas fähig sind.

Und genau wegen der Dramatik dieses Themas ist ein faktenbasierte Recherchearbeit unabdingbar! Da darf es kein „aber“ geben. Der einleitende „Faktenchek“ hat nur leider weder etwas mit seriösen Fakten zu tun noch hat das Redaktionsteam die eigenen Quellen ausreichend gecheckt.

Die Behauptungen

„Die Hälfte der Opfer (Anm.: Opfer von Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung/ Zwangsprostitution) sind unter 21 Jahre alt.“

Woher diese Angabe kommt bleibt „Leeroy will’s wissen!“ dem Publikum schuldig. Die Quelle wird zumindest nicht verbal oder innerhalb des ins Bild eingeschobenen Textzugs angegeben. Wäre aber wichtig. Mindestens die Angabe bspw. „laut Bundeskriminalstatistik“ oder „laut Bundeslagebild Menschenhandel“?
Über welchen erfassten Zeitraum muss man sich diese „Hälfte der Opfer“ vorstellen? Das vergangene Jahr? Die letzte Statistik? die zurückliegende Dekade? Hat das zu- oder abgenommen? Worin ist das begründet? Was vielleicht erstmal kleinlich klingt, hat letztendlich aber statistische und argumentative Relevanz.

Wie dem auch sei: der Fakt “ Die Hälfte der Opfer sind unter 21 Jahre alt.“ ist Fiktion, also falsch oder mindestens stark nach oben aufgerundet. Zumindest wenn man sich die offen recherchierbare Datenlage anschaut.

So sagt das Bundeslagebild Menschenhandel 2020: „Der Altersdurchschnitt der im Jahr 2020 identifizierten Opfer von sexueller Ausbeutung lag bei 24 Jahren und ist damit im Vergleich zum Vorjahr gesunken (2019: 26 Jahre). 42,7 % der Opfer, deren Alter ermittelt werden konnte, waren unter 21 Jahre alt (2019: 32,5 %).“

Warum legt man eigentlich soviel statistischen Wert auf unter 21-Jährige? Warum diese Grenze anstatt die Bemessensgrundlage an die Volljährigkeit, also 18 Jahre, zu knüpfen? Das ist übrigens ein Problem, das Hurenverbände und diverse NGOs schon lange kritisieren. Es ist in den § 232 Menschenhandel und § 232a Zwangsprostitution im Strafgesetzbuch (StGB) begründet.
Darin heißt es in Absatz 1: „Mit Freiheitsstrafe […] wird bestraft, wer eine andere Person unter Ausnutzung ihrer persönlichen oder wirtschaftlichen Zwangslage oder ihrer Hilflosigkeit […] oder wer eine andere Person unter einundzwanzig Jahren […]“

In der Praxis heißt das aber auch, dass unter 21-Jährige in der Prostitution bei Verdacht (bspw. infolge einer Razzia) erst einmal pauschal als Opfer von Menschenhandel betrachtet und erfasst werden. Hier ist noch gar keine Verurteilung oder Schuldsprechung des vermeintlichen Täters notwendig. Das vermeintliche Opfer wird polizeibehördlich erfasst. Damit werden nicht Opfer erfasst, sondern „Opfer“ produziert: durch Straftatbestände.

„Schätzungen zufolge sind über 50 % der Prostituierten Zwangsprostituierte. Allein in Deutschland sind das ca. 10.000 Frauen.“

Zurück zum den oben erwähnten, vom BKA herausgegebenen „Bundeslagebild Menschenhandel“ von 2020. Darin heißt es:
„Im Jahr 2020 wurden 406 Opfer in den Verfahren des Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung ermittelt. Damit ist die Anzahl der Opfer im Vergleich zum Vorjahr um 4,9 % gesunken (2019: 427 Opfer). […] Der Anteil weiblicher Opfer befand sich etwa auf dem Niveau des Vorjahrs (381 Opfer, 93,8 %; 2019: 405 Opfer, 94,8 %).“

Entweder hat die „Leeroy will’s wissen!“-Redaktion hier bewusst gelogen, verwerflich schlecht recherchiert oder sie ist unseriösen Quellen aufgesessen. Wahrscheinlich eine Mischung aus allen drei Vermutungen. Aber wie auch immer, wir erinnern uns der Sensibilität des Themas, der allgegenwärtigung der Victimisierung, zu befüchtenden Zwangsoutung und Stigmatisierung von Sexarbeiter:innen. Mittels solcher Falschaussagen im Zusammenhang mit Zwangsprostitution, wird die Hexenjagt einzelner Abolitionisten-Verbände gegen das Gros der legal und frei arbeitenden Sexworker nur weiter angeheizt. Die Debatte um die Rechtmäßigkeit von Prostitution wird also mit falschen/erfundenen Zahlen befeuert.

50 % = ca. 10.000? Rechenschwäche oder Faktenresistenz?

Kurios dass, wenn man die im „Faktencheck“ angegebenen 10.000 Zwangsprostituierte als Basis nimmt, von einer Gesamtzahl von 20.000 Sexarbeiter:innen in Deutschland ausgehen muss. Kurios deshalb, weil im zuvor erschienenen Video „Prostituierte trifft Feministin“ noch die Rede von 400.000 Prostituierten war. Im Video davor, „Wie ist das Prostituierte zu sein“, dann wieder was völlig anderes. Hier heißt es erst korrekt „40,400 offiziell gemeldete Prostituierte. Nur um direkt im Anschluss von „je nach Schätzung“ zwischen 400.000 und 800.000 auszugehen. Btw sind diese Zahlen nicht im Ansatz realistisch. Zum Vergleich: 800.000 ist in etwa die gesamte weibliche Bevölkerung Mecklenburg-Vorpommerns.

Besonders ärgerlich: Die 400.000, die bereits seit Ende der 1980er durch unzählige Veröffentlichungen wandern, haben sich schon lange und mehrfach als falsch erwiesen (siehe u.a. hier und hier).

Von Prostitutionsgegner:innen werden sie nur immer wieder bewusst zur Desinformation verbreitet. Und 800.000? Die hatten einst Alice Schwarzer und Emma erfunden, einfach willkürlich aus den Fingern gesaugt und als seriöse Schätzung verkauft.

Ganz nebenbei die Frage: Warum sollten sich indes „Prostituierte“ und „Feministin“ einander ausschließen? Das verstehe ich nicht. Na eigentlich doch. Der so gewählte Video-Titel ist leider vollends stigmatisierendes Framing. Framing, das die Arbeit von den vielen emanzipierten Sexdienstleisterinnen aka Autorinnen und Aktivistinnen – beispielhaft Salomé Balthus, Josefa Nereus, Ruby Rebelde, Fabienne Freymadl… – verleumdet und diffamiert.

Übersicht der Quellen in den Shownotes

Wie wir sehen ist eine nachvollziehbare, seriöse und gewissenhafte Recherchearbeit unabdingbar. Dies bedingt aber eine nachvollziehbare Quellenübersicht. Davon hält man bei „Leeroy will’s wissen!“ offenbar nichts. Das Schlagwort journalistische Sorgfaltspflicht ist mutmaßlich ein Fremdwort. Denn unter allen Videos sind Quellen nur sehr oberflächlich tituliert. Man erfährt nicht, ob es sich dabei um Primär- oder Sekundärliteratur handelt. Verlinkungen gibt es nie.

Machen wir es mal am Video „Wie ist das ZWANGSPROSTITUIERTE ZU SEIN?“ fest:

Quellenangaben lauten da z.B. „Bundeskriminalamt“, „Deutsches Institut für Menschenrechte“ und „ZDF.de“. Bitte was sind denn das für Angaben? Ebenso gut könnte dort „Internet“ oder „Bibliothek“ stehen. Die fehlenden Verlinkungen zu den entsprechenden Unterseiten oder Dokumenten, also hin zur jeweils relevanten Literatur bedeuten ja, dass man jetzt selbst Recherchearbeit von fast Null an betreiben muss. Steckt da Absicht dahinter?

Die Vermutung legt einem ja nahe. Denn wenn man sich auf die Suche macht, dann kommt man wie oben zu ganz anderen Datenlagen. Oder nehmen wir mal die angegebene Quelle „Forschung & Lehre.de“. Schon hier ist der erste Fehler, da die Webseite forschung-und-lehre.de heißt.
Auf besagter Plattform ist allerdings lediglich ein einziger Artikel zum Thema Zwangsprostitution zu finden (siehe hier). Dieser ist leider völlig ungeeignet für eine Recherchearbeit. Die Autorinnen des Textes (Yvette Völschow, Wiebke Janßen, Silke Brigitta Gahleitner) haben hier lediglich eine kurze Zusammenfassung mit wenig bis dürftigem Zahlenmaterial zum Thema verfasst. Eine Zusammenfassung aus deren eigener Publikation „Menschenhandel und Zwangsprostitution: Interdisziplinäre Perspektiven mit Blick auf Prävention und Intervention.“

Offenbar hat man sich in Matatas Team vor der Aufgabe gedrückt, Völschows / Gahleitners Buch durchzuarbeiten und stattdessen eine wenig sagende Zusammenfassung als Quellenangabe genutzt.

Ähnlich verhält es sich mit der Quelle „Frauenrecht ist Menschenrecht.de“. Auch diese Seite heißt anders, nämlich fim-frauenrecht.de! Auf welche Hintergrundinformationen des interkulturellen Beratungszentrums man sich in Matatas Team bezieht, bleibt offen. Überhaupt keine Frage, Fim macht qualitativ vorbildliche und wichtige Arbeit. Nur kann doch deren bloße Erwähnung nicht Quellenbeschaffung sein. Zumal FIM indirekt für die genannten Falschaussagen herhalten muss.

Fundamental evangelikaler Verein als Quelle

Noch ein Beispiel – ein überaus wichtiges! Eine der angegebenen Quellen ist offenkundig Mission-freedom.de, ein in Hamburg wirkender Verein, der sich den Kampf gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution auf die Fanen geschrieben hat. Welche „Fakten“ der Verein allerdings zusteuerte, bleibt unbekannt.

An diesem Beispiel wird aber noch einmal deutlich, dass es in Matatas Redaktion gar keine seriöse Recherchearbeit gegeben hat, denn:

Der 2011 gegründete e.V. um die Frontfrau und ehemalige Missionarin Gaby Wentland ist in der Vergangenheit mehrfach negativ aufgefallen. Dazu zählen erwiesener Maßen erfundene Fakten und erfundene Opfer, zutiefst unseriöse Arbeit, missionarischer Stil und und und. Im Dunstkreis der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA) befindlich geht es „Mission Freedom“ weder um faktenbasierte Erkenntnisse, noch um psychologisch und pädagogisch fachspezifische Arbeit sondern um Deutungshoheiten.

Spiegel-Online sprach im Zusammenhang mal von „dubiosen Methoden fundamentalistischer Christen“. Der NDR u.a. attestierten Gaby Wentland Homophobie. Sie wurde von einem Sektenexperten kritisiert. Und sie vermischt gerne mal unkommentiert die Themen Prostitution und Kinderpornografie.

Hamburger Behörden und Beratungsstellen hielten den Verein bereits vor 10 Jahren für problematisch. Soweit, dass der Senat 2013 folgende Stellungnahme abgab: „Weder das Landeskriminalamt noch die Sozialbehörde vermitteln mutmaßliche Betroffene von Menschenhandel an „Mission Freedom“. Eine Anerkennung des „Mission Freedom Home“ als Frauenhaus wurde wiederholt abgelehnt. Durch die mangelnde fachliche Qualität der Arbeit des Vereins sei die Sicherheit der Betroffenen nicht gewährleistet. Als kritisch wird zudem die spezifisch religiöse Ausrichtung im Umgang mit Opfern sexuellen Missbrauchs gesehen.

Was läuft schief bei „Leeroy will’s wissen!“ Werden die Faktenchecks von Praktikanten und unerfahrenden Nachwuchsjournalisten erstellt? Ist das Nachlässigkeit oder volle Absicht? Wer ist dafür zuständig und warum tritt man hier die Sorgfaltspflicht so sehr mit Füßen? Warum torpediert man die eigene Arbeit – ergebnissoffene Interviewführung auf Augenhöhe – durch grottenschlechte Informationskompetenz? Vielleicht haben hier ja externe Einflüsterer ihre Finger im Spiel? Vielleicht ja Mission Freedom? Andere? Hoffentlich nicht.

Zumal seitens öffentlich bekannter Abolitionist:innen seit etwa einem halben Jahr eine großangelegte Kampagne hin zum Prostitutionsverbot durchgeführt wird. Sie laufen erfolgreich von Talkformat zu Talkformat, schaffen es in etlichen Publikationen als Expert:innen zu Wort zu kommen und bauen hinter den Kulissen scheinbar ein fundamental konservatives Netzwerk zusammen, das Sorge bereitet. Immer mit im Schlepptau: erfundene Fakten, die immergleichen, schon längst widerlegten Argumentationen und die Mär von der riesigen Dunkelziffer von zur Prostitution gezwungener Frauen.

Natürlich haben wir bei „Leeroy will’s wissen!“ um Stellungnahme und Aufklärung in Bezug auf die „Faktenchecks“ gebeten. Leider kam bislang keinerlei Antwort. Wir bleiben dran…

red

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